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Sylter Metamorphosen

Die Sonne schien flach über das Feld, knapp über dem Horizont. Ihre Wärme begann der abendlichen Frische zu weichen, und das Gold in den Ähren wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer, indem die Strahlen einer nach dem anderen abgeschnitten und vom Watt verschluckt wurden. Was gerade noch heiter und fröhlich am Wasser entlangsäuselte, erschien jetzt düster und schwer. Eine schwarze, wabernde Masse nagte am Strand, unaufhörlich, unnachgiebig.
Geometrie des Augenblicks ... runde Speere liegen am Strand, sauber zu Paketen verschnürt, und bilden Dreiecke in einer übergeordneten Dimension. Massiv und unwirklich wirken die hölzernen Körper in einer Komposition aus Luft, Wasser und Sand. Und doch würden sie mich tragen, läge ich auf ihnen weit draußen im Meer, über mir nur die Wolken, unter mir die unendliche Tiefe der aufgewühlten See.
An diesem Ort hatte ich nun endlich wirklich das Gefühl, Teil einer jener Geschichten zu sein, die irgendwo zwischen Mythos und Realität seit jeher die Wahrnehmung der Insel Sylt prägen. Was es heißt, an der Buhne 16 am Kliffende die Augen zu schließen und die Aura des vergangenen Jahrhunderts zu fühlen. Sonderbar vertraut fühlt sie sich an, diese Luft, als hätte ich sie schon damals geatmet. Doch das spielt keine Rolle, weil zwischen damals und heute kein Unterschied ist.
Wenn Du die Augen schließt, dann hörst Du das Flüstern der Wächter. Sie neigen ihre Köpfe im Wind zueinander, unaufhörlich. Tauschen sie Informationen aus? Warten sie auf einen bestimmten Zeitpunkt? Wer weiß das schon. Unzählige sind es, ein einziges Flimmern. Und Sekundenbruchteile später schon in einer neuen Formation, die so nie in der Erdgeschichte jemals da gewesen ist und so niemals mehr da sein wird.
Und doch mag es einem Glauben schenken, man könne einfach den Weg entlanglaufen, weiter über das Watt hinaus in das offene Meer, immerfort. Aber je weiter wir gingen, desto näher kämen wir dem Ort, von dem wir einmal aufgebrochen sind. Schließlich, atemlos ob unserer Reise, ständen wir eines Tages erneut an diesem Weg, von dem wir nun wüssten, dass wir ihn niemals verlassen könnten, so weit und schnell wir auch liefen.
Am Ende ist es dann nur noch Freiheit: wenn Du an der Grenze zwischen Meer und Land auf dem Rücken eines Pferdes entlangschwebst, hinter Dir eine Wolke aus Gischt und Sand, und von vorne die klare, salzige Luft. Bis schließlich dem Wanderer am Strand nur noch ein kleiner schwarzer Punkt am Horizont verbleibt, der genauso gut von einem Fahrzeug oder einem sich im Winde neigenden Baum stammen könnte. Aber er lächelt zufrieden, weiß er es doch besser.
Wenn eine gigantische Hand Würfel vom Himmel herabwerfen würde, lägen sie dann nicht exakt so wie die Strandkörbe zu Füssen des Roten Kliffs? Oder sind sie doch viel mehr als das, sind sie Teil einer elementaren Ordnung, die bestimmt wird von der Richtung des Windes und dem Einfall der Sonnenstrahlen? Unwirklich erscheint dieser Außenposten inmitten der weiten Landschaft, gleich einem letzten Refugium zum Schutz vor den rauen Kräften der Natur.
Man sagt, die Erinnerung sei ein Land, in welches das Licht der Gegenwart nicht mehr hineinscheint. Eine Reise in dieses Land mag helfen, trösten, heilen, aber am Ende auch schmerzen und zerstören. Wer eine Reise dorthin auf sich nimmt, muss ein Licht mitnehmen ... ein Licht, das ihn leitet und wärmt. So dass er schließlich den Weg zurück findet und nicht in den Schatten seines eigenen Lebens für immer gefangen bleibt.
Hier spürt man die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Wir könnten Jahrtausende am Strand stehen und noch immer würde uns das Wasser mit gleichem Rhythmus entgegenrollen, mal heftiger, mal ruhiger: ein grenzenloses Feld aus Kraft und Energie. Man spürt plötzlich, wie klein und unbedeutend die Sorgen des Alltags doch sind, die uns gestern noch gefangen hielten. Jetzt lächeln wir darüber, unbeschwert. Freiheit nennt man das, glaube ich.
Träume dauern nur Sekunden, so heißt es. Doch die Erinnerungen daran manchmal ein Leben lang. Wer bestimmt, wie lange ein Traum dauern darf? Und wann daraus ein Albtraum wird? Der Übergang ist fließend, unmerklich. Die Kunst liegt darin, im richtigen Augenblick wieder aufzuwachen ... und unterscheiden zu können, was ein Traum ist und was Realität. Auch wenn man das manchmal gar nicht wissen möchte.
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